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Dem Herzensgebet auf der Spur

Dem Herzensgebet auf der Spur

Von Olav Hanssen zu Graf Dürckheim

Ein Wegbericht von Christian Ottemann

(ungekürzte Fassung)

 

Angestoßen durch die Verkündigung des Hermannsburger Evangelisten Klaus Vollmer kam ich als Student an der Universität in Heidelberg zum Glauben an Jesus Christus. Um an die Quellen dieser Verkündigung näher heranzukommen, verließ ich 1972 meinen damaligen Wohn- und Studienort und ging an das Missionsseminar in Hermannsburg. Zunächst absolvierte ich dort die „Mitarbeiterschule“, einen siebenmonatigen Schulungskurs für Laien-Mitarbeiter in Kirche und Gemeinde. 1973 begann ich das reguläre Theologiestudium als „Missi-onszögling“ dort am Seminar. 

An vielen Meditationsfreizeiten und Einkehrtagen des Missionsseminars und der Missionars-bruderschaft „Koinonia“ nahm ich seitdem teil,  -  mit Begeisterung. Auf diesen Freizeiten praktizierten wir die „Meditation“ bzw. „Betrachtung“ im Umgang mit Worten der Bibel oder mit Themen des geistlichen Lebens. Theoretischer Leitfaden war für uns die einschlägige „Koinonia“-Literatur, vor allem das Buch „Leben heißt Sehen“ (Anm. 1). Meine persönliche Praxis  -  sowohl bei den Einkehrzeiten als auch in der täglichen „Stillen Zeit“  -  war überwiegend geprägt von der Anleitung und Begleitung durch Pastor Dr. Reinhard Deichgräber, einen der theologischen Lehrer des Seminars, der damals auch die „Mitarbeiterschule“ leitete. 

Als ich 1974 zum ersten Mal die von Olav Hanssen verfasste „Regel der Koinonia“ in die Hand bekam, fand ich darin genau das wieder, was mich damals innerlich bewegte. Zum einen faszinierte mich das, was über die kollektive Berufung dieser Gemeinschaft darin zu lesen war: 

„Die Koinonia versteht sich als eine Bruderschaft des Gebetes. Sie hat eine kontemplative Berufung. Sie weiß, daß das kein Verzicht auf die Tat, die actio, sein darf, aber sie weiß auch mit unerschütterlicher Gewißheit, daß nur solche actio geistlich fruchtbar ist, die aus der contemplatio erwächst. Ihre Regel lautet deshalb: Widme dem betrachtenden Gebet soviel Zeit, daß dein übriges Tun aus einer lebendigen Erfahrung der Gegenwart Gottes erwächst.“

 Zum andern fühlte ich mich verstanden in meinem Fragen nach der eigenen Berufung:

 „Wer ist denn nun in besonderer Weise zu einem Leben des Gebetes berufen? Es ist der Mensch, den seine Sehn-sucht und Leidenschaft weit über das hinaustreiben, was Heimat und Besitz, Freundschaft und Ehe, Wissen und Reisen, ja selbst christliche Aktivitäten ihm zu bieten vermögen. Es ist der Mensch, der von einer geradezu metaphysischen Unzufriedenheit ergriffen ist, die nur in der Ewigkeit, in der Gegenwart Gottes zur Ruhe kommt. Er muß beten, oder er verliert den Boden unter den Füßen; er muß beten, oder er ist zum Leerlauf und zur Unfruchtbarkeit verurteilt.“ (Anm. 2)

 Seit 1975 gehörte ich selbst dann zur „Koinonia“, genauer gesagt: zum nicht-monastischen Teil der Bruderschaft, der sogenannten „Roten Koinonia“. Das in der „Regel der Koinonia“ vorgesehene regelmäßige Beten und Meditieren - möglichst eine volle Stunde jeden Tag -  gehörte nun für mich zum Alltag meines Lebens. Aber wie und womit konnte ich diese Stunden des Gebetes füllen? 

Neue Anregung und Herausforderung fand ich in Olav Hanssens gerade neuerschienenem Buch „Das betrachtende Gebet“. Neu und herausfordernd war für mich darin vor allem der Abschnitt „Das Gethsemanegebet und das Herzensgebet der Ostkirche“ (Anm. 3). 

Das Herzensgebet der Ostkirche  -  so Olav Hanssen  -  erweist sich als „eine besonders hilfreiche Methode, die mit ziemlicher Sicherheit zu dem gewünschten Ziel führt“, nämlich: uns „wirkungsvoll auf ein Wort der Heiligen Schrift zu konzentrieren“, ohne dass dabei unsere Gedanken „pausenlos ... wie die Affen umherspringen.“    

Im Unterschied zum klassischen Herzensgebet der Ostkirche mit seinem Gebetswort „Herr Je-sus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich meiner“ empfahl Hanssen als Gebetsformel das „Herzensgebet Jesu“ aus der Gethsemane-Geschichte: „Mein Vater, nicht wie ich will, sondern wie du willst.“ Für das praktische Üben einschließlich der geeigneten „Atemtechnik“ gab Hanssen ausführliche Anweisungen: 

„Der Beter richtet völlig entspannt und konzentriert seine innere Aufmerksamkeit auf sein Herz (deshalb Herzens-Gebet!), genauer, auf die Körperstelle oberhalb seines Herzens. Das Herz ist dabei zugleich symbolisch als Sitz der seelischen und geistigen Kräfte des Menschen verstanden ... Gerade die Einheit von Seele und Geist an einem leiblichen Ort ist wichtig ... 

Wir atmen bewusst, und zwar in dem Dreischritt:

-        Ausatmen (möglichst lange)

-        entspannte Pause  

-        Einatmen.

Diese Technik muß sorgfältig geübt werden. 

Wir konzentrieren uns jetzt auf das Gethsemane-Gebet Jesu: ‚Mein Vater, nicht wie ich will, sondern wie du willst’... Dabei verfahren wir folgendermaßen:

a)      ‚Mein Vater, nicht wie ich will ...“: Ausatmen. Der Eigenwille, alle bösen Gedanken verlassen das Herz. Das Ausatmen entspricht dem Fasten, dem Abend, dem Tod, der Kreuzigung.

b)     Entspannte Pause: Die Nachtruhe, das Grab.

c)      ‚sondern wie du willst ...“ Einatmen: Gottes Geist, seine Liebe und Kraft ziehen in unser Herz hinein. Es ist das Erwachen am Morgen, das Sinnbild der Auferstehung: Es ist alles neu geworden.

 Diese Übung werden wir möglichst oft und lange wiederholen. Sie erscheint auf den ersten Blick recht mecha-nisch. Wer dieses Gebet aber regelmäßig übt, wird es kaum noch missen wollen, hat es doch eine segensreiche, verwandelnde Kraft. Bei hinreichender Übung kann es uns als immerwährendes Beten (Beten ohne Unterlaß) durch den ganzen Alltag begleiten.“ 

Gleich im Sommer 1975 habe ich diese Anweisung zu befolgen versucht, - in freilich oft sehr mangelhafter, auch in zeitlicher Hinsicht begrenzter Form. In einem Zeitraum von vier Wo-chen einsamen Wanderns in Griechenland und in der Türkei und einem anschließenden dreiwöchigen Kurs „Kloster auf Zeit“ im Benediktinerkloster Niederaltaich in Bayern hatte ich dazu einige Gelegenheit. 

Auch in den darauffolgenden Monaten, wieder zuhause im Seminar, habe ich mich immer wieder um das Gethsemanegebet bemüht und es phasenweise auch praktiziert. Manche Herausforderung und Ermutigung empfing ich in den Jahren 1976 und 1977 durch Einkehrzeiten unter der Leitung von Olav Hanssen selbst. Bei diesen „Einführungen zum Betrachtenden Gebet und zum Herzensgebet“ gab er gelegentlich auch Hinweise zu Fragen des Atmens und der leiblichen Entspannung. Insbesondere machte er uns auf  die von Alice Schaarschuch entwickelte „Atem- und Lösungstherapie“ (Anm. 4) aufmerksam. Die konkrete Einübung einer solchen, dem Herzensgebet entsprechenden „Atemtechnik“ war jedoch leider nicht vorgesehen. 

In jenen Monaten und Jahren wurde mir nun mehr und mehr bewusst, welche praktischen Probleme ich persönlich mit der Übung des Herzensgebetes hatte. Da war zum einen nach wie vor die innere Affenherde meiner schweifenden Gedanken, zum andern mein immer noch viel zu hoch sitzender, teilweise blockierter Atem. So hatte mein Üben allzu oft noch etwas Ange-spanntes, Angestrengtes, gelegentlich auch den Beigeschmack einer freudlosen Pflichtübung. Immer dringender stellten sich mir die folgenden zwei Fragen: 

1.     Welche Art des Übens erleichtert mir persönlich den Schritt vom gegenständlich-diskursiven „Betrachten“ zur nicht-diskursiven Stille vor Gott, der „Meditation“ bzw.  „Kontemplation“ im engeren Sinne dieses Wortes?

2.     Wie kann ich meinen Leib so in die Übung einbeziehen, dass mein Atem, die äußere Haltung und der Tonus (Spannungszustand) meines Körpers sich zu einem freien, natürlichen Schwingen hin lösen können und so mein Meditieren erleichtern, statt es zu stören oder zu blockieren? 

Nach meinem ersten theologischen Examen 1977 legte ich eine zweijährige „spirituelle Orientierungsphase“ ein,  -  nicht zuletzt, um den eben genannten Fragen auf den Grund gehen zu können. Neben einer Halbtagstätigkeit im Hermannsburger Büro der „Koinonia“ konnte ich mich nun relativ ungestört den Fragen und Erfahrungen meines inneren Weges widmen. 

Reinhard Deichgräber schenkte mir damals das Taschenbuch „Kontemplatives Beten. Die Wolke des Nichtwissens. Eine präzise Anleitung zur kontemplativen Meditation in Parallele zum Zen“ (Anm. 5). Herausgeber war Prof. Dr. Willi Massa, der damals gerade das ökumenische Meditationszentrum „Exerzitium Humanum“ in Tholey im Saarland gegründet hatte. In einer stark aktualisierten Übersetzung (strenggenommen: Übertragung) begegnete ich hier zum ersten Mal der „Wolke des Nichtwissens“, also dem mystischen Traktat „The Cloud of Unknowing“ aus dem England des 14. Jahrhunderts. In diesem Klassiker spiritueller Literatur wird tatsächlich eine authentisch christliche Form nicht-gegenständlichen Meditierens be-schrieben und gelehrt: 

„Gott kann nicht im Denken erkannt werden. Darum ziehe ich es vor, alle Erkenntnis hinter mir zu lassen und den zu lieben, den ich nicht im Denken erkennen kann... Natürlich ist es gut, über Gottes Größe nachzudenken, schon der Einsicht wegen, die solche Betrachtungen mit sich bringen. Doch in der echten kontemplativen Übung musst du all das lassen und mit der Wolke des Vergessens bedecken. Laß nur noch deine liebende Sehnsucht ruhig und gelassen, mutig und froh emporsteigen, um das Dunkel über dir zu durchdringen. Durchstoße diese dichte Wolke des Nichtwissens mit dem Speer deiner liebenden Sehnsucht. Laß nicht nach, mag kommen, was will ...“ (S. 38) 

Für die Praxis wird die häufige Wiederholung eines kurzen Meditationswortes empfohlen:

 „Willst du deine ganze Sehnsucht in ein Wort fassen, das du leicht behalten kannst, ziehe ein kurzes einem langen vor. Am besten ist ein ganz kurzes Wort wie ‚Gott’ oder ‚Liebe’. Wähle dir aber eines, das dich anspricht. Nimm dieses Wort so tief in dich hinein, dass es nicht verklingt, was auch kommen mag. Benutze es, um in die Wolke des Dunkels über dir zu stoßen. Alle Zerstreuungen wehre damit ab und bringe sie unter die Wolke des Vergessens...“ (S. 39) 

Für mich persönlich  -  auch als Ausgleich gegenüber der teilweise einseitig intellektuellen Ausrichtung meines Theologendaseins  -  war dieser Weg der „Wolke des Nichtwissens“ ausgesprochen anziehend und verheißungsvoll. Darüberhinaus erwachte in mir ein brennendes Interesse am Weg des japanische Zen, dabei vor allem an einer authentisch christlichen „Meditation im Stil des Zen“.   

„Zen - ein Weg für Christen“ (Anm. 6) -  so hieß dann auch das nächste Büchlein, das ich in mich aufsog. Sein Verfasser war William Johnston, ein irischer Jesuitenpater, der als Missionar in Japan lebte, gelegentlich aber nach Europa reiste, um auf Meditationskursen eine von ihm praktizierte Form des „Christian Zen“ (Christliches Zen) weiterzugeben. Als Schüler des berühmten christlichen Zen-Lehrers Hugo Enomiya-Lassalle SJ verstand es Johnston, die Klarheit und Strenge des Zen mit einer typisch christlichen Liebe, Herzenswärme und Jesus-Bezogenheit zu verbinden. Das faszinierte mich besonders, und ich nahm mir vor, so bald wie möglich ein „Sesshin“, also einen mehrtägigen Zen-Kurs, bei Pater Johnston oder einem anderen Lehrer der von ihm vertretenen Richtung mitzumachen. 

Die Gelegenheit bot sich schon bald. Im Frühjahr 1978 konnte ich zum ersten Mal an einem Kurs „Meditation im Stil des Zen“ teilnehmen, der in der „Christlichen Meditationsstätte Son-nenhaus“ in Beuron an der Donau angeboten wurde. Hier erschloß sich mir eine neue Dimen-sion von Selbsterfahrung und meditativem Erleben. In diesen von Pater Bernhard Scherer SJ geleiteten viertägigen „Meditationsexerzitien“ (so genannt im Unterschied zu den herkömm-lichen Vortrags- und Betrachtungsexerzitien) wurde ich zum einen praktisch angeleitet in „Eutonie“ als einem Übungsweg personaler Leiberfahrung (nach Gerda Alexander und Han-nelore Scharing). Zum andern lernte ich hier nun wirklich die „Meditation im Stil des Zen“ kennen, und zwar in der besonderen Form, die Bernhard Scherer selbst bei Karlfried Graf Dürckheim in Todtmoos-Rütte gelernt und eingeübt hatte. Gleichzeitig verstand es Scherer, diese Übungsform in einer für mich überzeugenden Weise spezifisch christlich zu deuten und mit katholischer Liturgie, Taizé-Gesängen und Kommunikationsformen aus dem Raum der charismatischen Bewegung zu verbinden. 

Die Erfahrungen, die ich hier machen konnte, waren für mich sehr hilfreich, ja einfach beglückend. Hier fand ich nun auch eine für mich persönlich zugängliche Antwort auf die zwei Hauptfragen meiner bisherigen geistlichen Übungspraxis:

-        die Frage nach dem Übergang vom diskursiven „Betrachten“ biblischer Themen und Texte zur nicht-diskursiven Stille vor Gott, also zur „Meditation“ bzw. „Kontemplation“ im engeren Sinne dieses Wortes, und

-        die Frage nach einer Art der „Übung des Leibes“, durch die ein freieres, gelösteres Schwingen meines Atems möglich wurde. 

In den darauffolgenden Jahren „pilgerte“ ich nun mehrere Male zu Pater Scherer nach Beuron. Aber auch andere Meister der „kontemplativen Meditation“ bzw. der „Meditation im Stil des Zen“ lernte ich nun bei den von ihnen geleiteten Kursen kennen, z. B. Pater William Johnston SJ, Pater Hugo Enomiya-Lassalle SJ und Pater Willigis Jäger OSB. Meine Erfahrungen mit „Eutonie“ vertiefte ich unter der Anleitung von Arnold van Ogtrop in Falshöft bei Flensburg. 

Von 1979 bis 1983 nahm ich teil an einer Selbsterfahrungs- und Ausbildungsgruppe für Meditations- und Exerzitienanleiter unter der Leitung von Prof. Dr. Willi Massa (Tholey/Saarland) und Franz-Xaver Jans-Scheidegger (Lehranalytiker am C.-G.-Jung-Institut Zürich). Seit 1982 habe ich dann selber - zusammen mit meiner Frau Erika, die die eutonische Körperarbeit anleitete - eine Vielzahl von Meditationskursen gestaltet, - zuerst im Missionsseminar Her-mannsburg, dann im Domkloster Ratzeburg, seit mehr als 10 Jahren nun im Ansverus-Haus in Aumühle bei Hamburg. Dabei sind wir - was den Stil unseres Übens und Anleitens betrifft - im Wesentlichen bei dem geblieben, was wir beide zuerst bei Pater Scherer in Beuron kennengelernt hatten. 

Immer wichtiger wurde dabei für mich - sowohl in der Praxis als auch in der Theorie - das Werk von Karlfried Graf Dürckheim, den ich 1982 in seiner „Existentialpsychologischen Bildungs- und Begegnungsstätte“ in Todtmoos-Rütte auch persönlich kennenlernte und über dessen „Lehre vom Initiatischen Weg“ ich dann meine theologische Doktorarbeit schrieb (Anm. 7). 

Das Wichtigste an Dürckheims Wegweisung war für mich die von ihm gelehrte viergliedrige „Atemformel“, wie ich sie zuerst durch Bernhard Scherer in Beuron kennengelernt hatte. Hier zunächst eine schematische Wiedergabe:

 

Phasen des Atems    

Leiblich-
personal

Christlich-personal

Körper-
gefühl

Innere Haltung

Aus

Sich loslassen
im Schulterbereich

Los von mir

Schwere

Mut

Aus

Sich niederlassen
im Beckenraum

Hin zu Dir

Weite

Vertrauen

Pause

Sich einswerden lassen
in den Boden hinein

Eins mit Dir

Wärme

Geduld

Ein

Sich neu kommen lassen
bis zum Scheitel hinauf

Neu aus Dir

Licht

Bereitschaft

 

Mit dieser „Atemformel“ meint Dürckheim den „bewußten Vollzug dessen, was im rechten Atem faktisch geschieht oder geschehen kann“ (Anm. 8 ). Diese Formel ist nicht zu verstehen als empirische Beschreibung einer einzelnen Atemübung, sondern als symbolische Zusam-menfassung dessen, „was im Verlauf eines ganzen Lebens in nie nachlassender Übung immer wieder erfahren und letztlich gewonnen werden kann. Symbolisch gesehen, birgt ein Atemzug alle Möglichkeiten des Großen Weges.“ Das, was „in Wahrheit nur in langer Zeit Schritt um Schritt erfahren werden kann“, wird hier in einer einzigen Formel zusammengefasst, „als sei es in einem einzigen Durchgang zu erfahren möglich.“ 

Diese Atemformel betrifft den Menschen nicht nur „äußerlich“ oder rein „körperlich“. Sie ist vielmehr ganzheitlich-personal zu verstehen: als „die Grundformel zur Verwandlung der Person.“  Den „Geist“ dieser Formel, damit aber auch das innere Geschehen einer echten „Meditation im Stil des Zen“, beschreibt Dürckheim in typisch christlichen Begriffen als einen Prozeß mystisch-personaler Glaubenserfahrung. Dieser Prozeß ereignet sich 

1.     im Spannungsfeld der personalen Grundhaltungen von Glaube und Unglaube bzw. von Misstrauen und Vertrauen gegenüber dem göttlichen SEIN, und

2.     als Vollzug eines mystischen Sterbens und Neuwerdens im Inneren des meditierenden Menschen. 

Als haftendes und fixierendes „Welt-Ich“ erlebt sich der Übende zunächst in einer ständigen, eingefleischten „Mißtrauensspannung“. Da ihm „das Verwurzeltsein im Wesen fehlt“, bekundet sich in ihm „ein mangelndes Grundvertrauen gegenüber dem, was von außen auf einen zukommt oder einem von innen her widerfahren kann und das gesicherte Dasein in Frage stellt.“ 

Schon die erste und zweite Phase der Atemformel - das „Sich loslassen“ und „Sich niederlassen“ im Ausatem - „meint und fordert“ vom Übenden ein personales „Loslassen“ seines ganzen welt- und ich-zentrierten „Siche-rungssystems“. Schon dieses erste „Loslassen im Leibe“ kann vom Übenden religiös erlebt werden, - kann es doch begleitet sein von tiefen Einsichten in den eigenen Glaubenszustand, der erfahrungsgemäß zunächst mehr von Angst und Unglauben als von Glauben und Vertrauen gekennzeichnet ist. Dem Übenden kann hier eine unabweisliche Sündenerkenntnis zuteilwerden, - jene „erschreckende Einsicht“ nämlich, „wie unendlich verstockt und weit entfernt vom Kern unserer möglichen Existenz man lebt, solange man nur in einem System von Welt-Si-cherungen seine Ruhe sucht und sich auf die Erkenntnisse eines gegenständlichen Bewusstseins verläßt. Eben das unerschrockene Hinschauen auf diesen Grad von Abgewandtheit vom Wesen, von Verlorenheit in einem Abweg, von Flachheit im Blick auf die uns rufende Tiefe begleitet dann die erste Phase, das Loslassen.“ 

Schon dieser erste Schritt der Atemformel, vor allem aber auch deren zweite Phase, das „Sich niederlassen“, „bedeutet den Übergang aus einer Haltung des Misstrauens gegen sich selbst, die Welt und Gott, die leiblich in den gespannten Schultern zum Ausdruck kommt, zu einer Haltung des Vertrauens, die leiblich einhergeht mit dem sich Niederlassenkönnen im Bauch-Becken-Raum. Personal gesehen bedeutet dies das Hinfinden zu einem Grundvertrauen, das keine rationale Legitimation in Gestalt erkennbarer oder geglaubter Sicherungen braucht. Dieses Vertrauen kann nur wachsen in dem Maße, als der Mensch es immer wieder wagt, den Sprung zu tun ins Unbekannte, wie einen Sprung ins tiefe Wasser. Es ist das Vertrauen, für das man keine Beweise hat, einfach das Vertrauen, dass ein Unbekanntes einen überleben lässt. In religiöser Hinsicht bedeutet dies das Erfahren eines echten Glaubens, der definiert werden kann als: Sprung in Unbekannt, ohne Rest, voller Vertrauen ... Da wird etwas verspürt, das dieses Vertrauen rechtfertigt. Ohne diesen Sprung zu wagen und innerlich immer wieder zu vollziehen, erfüllt der zweite Schritt der Atemformel nicht seinen personalen Sinn.“ 

In der dritten Phase der Grundformel des Atems - dem „Sich einswerdenlassen“ in der Atempause - „kann in unbegrenzter Vertiefung weitergeführt werden, was bereits der zweite Schritt bringt. Hier besteht die Aufgabe, sich ganz und ohne Rest einzulassen in den unfassbaren Grund.“ Dürckheim beschreibt dieses Geschehen in der Sprache der klassischen christlichen Mystik: „Je mehr die initiatische Bereitschaft den Menschen ergreift, umso mehr wird der dritte Schritt der Atemformel zur Erfahrung des mystischen Todes. Es ist das wirklich Zunichtewerden, es ist die Nacht. In ihr ist auch der dem Welt-Ich Halt gebende Glaube an einen rettenden Gott vergangen. Es ist der Augenblick, in dem nichts mehr da ist, was da war, was Kraft, Sinn und Halt gab. Ohne diesen Tod gibt es nicht die Auferstehung aus dem Wesen. Dieser Durchgang durch die totale Nacht erst bringt die wirkliche Neugeburt aus dem Wesen...“ 

In der vierten Phase des Atems schließlich - dem „Sich neu kommenlassen“ mit dem Einatem - kann der Übende etwas erfahren von einer mystischen „Auferstehung“ bzw. „Neugeburt aus dem Wesen“, die sich schon in der Erfahrung des „mystischen Todes“ ankündigt und vorbereitet. Es ist dies „das Aufbrechen der Schale“, „in der der göttliche Same aufs Hervorkommenkönnen wartete“, „das Erlebnis des großen ‚Ich-Bin’“, die „Geburt eines neu-en Gewissens“: „Das mit dem dritten Schritt entstandene Grundvertrauen mündet im vierten Schritt im Erlebnis einer Freiheit, die nicht mehr von der Zuverlässigkeit erkennbarer Sicherungen abhängig ist ... So trägt der Einatem den Übenden mit der Welle des neuen Vertrauens in das Licht einer neuen Lebensgestalt empor, in der er sich als ein Neugewordener in aller Gefährdetheit von unbegreiflichen Kräften getragen, in Form gehalten und geborgen erfährt." 

Für mich persönlich war das von Dürckheim hier beschriebene Meditieren mit dem Atem zunächst einfach schon dadurch hilfreich, dass es mir ermöglichte, mein leibhaftiges Dasein - hier nun konzentriert auf das Atmen und Sitzen in Stille - in seiner personhaft-religiösen Be-deutung zu verstehen und neu zu erleben. Auch denjenigen Menschen, die nicht im spezifisch christlichen Glauben und Denken zuhause sind, kann Dürckheims Atemformel ein konkretes Gespür für das vermitteln, was in der Bibel mit den Worten „Glaube“ und „Unglaube“, „Sün-de“ und „Gnade“ gemeint ist und was von vielen christlichen Mystikern als ein Weg geistli-chen „Sterbens“ und „Neuwerdens“ beschrieben worden ist. Auch einige von den Teilnehmern der von meiner Frau und mir geleiteten Meditationskurse haben dies erfahren und davon berichtet.   

Besonders wichtig wurde uns die christlich-dialogische Variante der Atemformel Dürckheims (Anm. 9):   

Los von mir

Hin zu Dir 

Eins mit Dir

Neu aus Dir.


Dieses Meditationswort ist, strenggenommen, nichts anderes als ein Gebet. In konzentrierter Form enthält es für mich die Möglichkeit, den Gott der Bibel, an den ich glaube, nicht-fixierend und doch personhaft anzureden.  

Seiner sprachlichen Form nach ist dieses Atem-Gebet kein Bittgebet wie etwa das klassische Herzensgebet der Ostkirche. Die Fixierung auf irgendein Bitten, Wünschen und Wollen und dessen Gegenstände wird hier vermieden. Auch theologisch gewichtige Worte und Begriffe wie „Herr“, „Jesus“, „Christus“, „Sohn Gottes“, „Erbarmen“ sind hier ausgeklammert. Allzuleicht werden intellektuell erregbare Menschen, insbesondere Theologen, durch solche großen Worte (gerade weil sie so kostbar und inhaltsreich sind!) dazu verführt, dass sie nicht wirklich meditieren, sondern nachdenken und so das eigentliche Stillesein vor Gott verfehlen.     

Dürckheims Atem-Gebet ist ein Gebet der Hingabe, in dem auch all das mitschwingt, was in anderen, „klassischen“ Hingabegebeten der Christenheit ausführlicher zur Sprache kommt,    z. B.: „Mein Herr und mein Gott, nimm alles von mir, was mich hindert zu dir ...“ (Nikolaus von der Flüe) oder „Mein Vater, ich überlasse mich dir...“ (Charles de Foucauld).  

Auch das Gethsemane-Gebet, wie Olav Hanssen es uns vermittelte, ist hier in seinem inneren Sinn mitaufgehoben: „Mein Vater, nicht wie ich will, sondern wie du willst.“ 

Mit dem Wortlaut des Gethsemane-Gebetes verband sich für mich leider immer wieder das Problem, dass diese an sich wahrheitsgemäßen, kostbaren Begriffe „Vater“, „wollen“ usw. mich während des Betens und Meditierens immer wieder zu entweder erbaulichem oder theologisch-wissenschaftlichem Nachdenken verführten und mich so natürlich daran hinderten, in die eigentliche Stille vor Gott einzutreten. 

Für mich ist das Gethsemane-Gebet auch immer unauflöslich mit der Gethsemane-Geschichte und ihrer ganzen emotional erschütternden Dramatik verbunden gewesen. Immer wieder mußte ich auch an all das Andere denken, das zu dieser Geschichte dazugehört, etwa die bleierne Müdigkeit und das Versagen der Jünger von Jesus, dazu sein eigenes Verratenwerden, sein Zu-Tode-Betrübtsein, sein Zittern und Zagen, der Willenskampf in seinem Herzen. In bestimmten Grenzsituationen - etwa im Krieg, bei außergewöhnlicher Belastung, in Krankheit oder Lebensgefahr, auch etwa an einem besonderen Einkehrtag, der einem Thema wie „Gethsemane“ gewidmet ist - können und sollen wir uns dieser Dramatik stellen, uns selbst darin wiederfinden und dann auch die tröstende Kraft dieser Geschichte erfahren. Aber in der normalen Praxis täglichen Meditierens sind die gedanklichen und gefühlsmäßigen Assoziationen und Stimmungsqualitäten der Gethsemanegeschichte für viele Menschen eher störend und unnötig belastend. Was tun?   

Olav Hanssen sah im Gethsemane-Gebet den Inbegriff der Gebetspraxis von Jesus selbst, eine sozusagen überzeitlich gültige Grundformel seines Betens, dessen Wesen freilich gerade in der historischen Gethsemanegeschichte unüberbietbar klar zum Vorschein kommt. Die Meinung des Evangelisten Matthäus hat er damit sicher gut getroffen. Nicht umsonst betet Jesus in Gethsemane beim zweiten Mal exakt die Worte, die auch im Zentrum des Vaterunsers und damit der ganzen Bergpredigt von Jesus stehen: „Dein Wille geschehe!“ (Matthäus 6,10 und 26,42) In diesen Worten sah Hanssen auch den Inbegriff einer Spiritualität der Bergpredigt (und damit des ganzen Matthäus-Evangeliums, wenn nicht des Neuen Testaments überhaupt): die Übung und Einübung der Hingabe an den liebenden Willen des göttlichen VATERS (Anm. 10).          

Für mich persönlich ist es hilfreich und beglückend, diesen inneren Sinn des Gethsemane-Gebetes in Dürckheims Meditieren mit dem Atem wiederzufinden und etwas davon im alltäglichen Leben umsetzen zu können.

 Ein letztes Wort noch zur konkreten Praxis: Olav Hanssens „Dreischritt“ des Atmens (von dem er ja sagte: „Diese Technik muß sorgfältig geübt werden!“) ist in Dürckheims viergliedri-ger Formel voll aufgenommen und in die konkrete Leiberfahrung hinein entfaltet. Während beim klassischen Herzensgebet der Übende seine Aufmerksamkeit auf eine relativ hoch gele-gene Körperstelle (etwa im Bereich des Herzens) richten soll (Anm. 11), empfiehlt Dürckheim mit Entschiedenheit eine Konzentration auf den „Hara“-Punkt im Zentrum des Bauch-Becken-Raumes. Nur durch ein „Sich loslassen“ im oberen Teil unseres Körpers (also auch im Bereich des Herzens!) und das sich daran anschließende „Sich niederlassen im Beckenraum“ wird der volle, gelöste Ausatem möglich (Anm. 12).   

Die Phase des Ausatmens und Loslassens, die schon bei Hanssen „möglichst lange“ dauern soll, wird daher von Dürckheim noch stärker betont und in zwei eigene Phasen differenziert, - eben damit sie möglichst lange dauern und dementsprechend tief wirken kann. Die Atempause in Dürckheims Formel betont konkret das Ruhen der Aufmerksamkeit im Bauch-Becken-Raum und den Kontakt mit dem tragenden Boden als der erdhaft-mütterlichen Seite des göttlichen SEINS, als Raum der Geborgenheit, des Sterbens und Neuwerdens der menschlichen Person. Über die Phase des Einatmens schließlich, das „Sich neu kommenlassen in der auf-rechten Leibesgestalt“, würde auch Dürckheim sicher sagen können, was Olav Hanssen so ausdrückte: „Gottes Geist, seine Liebe und Kraft ziehen in unser Herz hinein. Es ist das Erwachen am Morgen, das Sinnbild der Auferstehung: Es ist alles neu geworden“.    

Anmerkungen

 1)     O. Hanssen und R. Deichgräber, Leben heißt Sehen. Anleitung zur Meditation, Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen, 1. Aufl. 1968

2)     Regel der Koinonia, im Druck erschienen bei der Missionshandlung Hermannsburg 1977, S. 15f.

3)     O. Hanssen, Das betrachtende Gebet, Präsenz Gnadenthal, 1. Aufl. 1974, S. 74-77

4)     A. Schaarschuch, Atem- und Lösungstherapie bei Schlafstörungen, Turm Bietigheim, 2. Aufl. 1962 (4., erw. Aufl. 1978 unter dem Titel „Der atmende Mensch“)

5)     W. Massa (Her.), Kontemplative Meditation. Die Wolke des Nichtwissens, Matthias Grünewald Mainz, 1. Aufl. 1974

6)     W. Johnston, Zen – ein Weg für Christen, Matthias Grünewald Mainz, 1. Aufl. 1977

7)     C. Ottemann, Initiatisches Christentum. Karlfried Graf Dürckheims Lehre vom „initiatischen Weg“ als Herausforderung an die evangelische Theologie, Peter Lang Frank-furt / Bern / New York / Paris 1990

8)     A. a. O., S. 286-290; dort auch die Stellennachweise im Einzelnen

9)     In seinem Buch „Meditieren - wozu und wie“ (Herder Freiburg, 1. Aufl. 1976, S. 146) gibt Dürckheim dieser Formel einen leicht veränderten Wortlaut „Weg von mir  -  Hin zu Dir  -  Ganz in Dir  -  Neu aus Dir“. Ich persönlich bevorzuge weiterhin die frühere, ursprüngliche Variante „Los von mir  -  Hin zu Dir  -  Eins mit Dir  -  Neu aus Dir“, mit der ich 1978 durch Bernhard Scherer vertraut wurde. Von Dürckheim selbst war diese frühere Fassung einige Jahre lang mündlich weitergegeben worden. Auch andere erfahrene Lehrer der Meditation haben den Wortlaut so von ihm übernommen (vgl. K. Tilmann, Die Führung zur Meditation, Bd. 1, Benziger Zürich / Einsiedeln / Köln, 7. Aufl. 1976, S. 264).

10) Vgl. O. Hanssen, Dein Wille geschehe. Anleitung zur geistlichen Lesung des Matthäus-Evangeliums, Präsenz Gnadenthal 1970

11) Typisch für diesen Rat ist z. B. die folgende Bemerkung in dem (ansonsten sehr empfehlenswerten) Büchlein von K. Ware und I. Jungclaussen „Hinführung zum Herzensgebet“ (Herder Freiburg 1982, S. 60): „Der Anfänger, der es unternimmt, ... nach seinem Herzenszentrum zu suchen, ist in Gefahr, seine Gedanken unvermerkt in den Bereich zu lenken, der weiter unter dem Herzen liegt - in den Bauchraum und die Darmgegend (Unterleib). Die Auswirkungen auf das Gebet wären verheerend, denn diese niedrigere Region ist die Quelle der fleischlichen Gedanken und Empfindungen, die Geist und Herz verunreinigen.“ 

12) Vgl. K. Graf Dürckheim, Hara. Die Erdmitte des Menschen, O. W. Barth München, 7. Aufl. 1975, S. 144-160. 

(Eine gekürzte Fassung dieses Aufsatzes ist enthalten in: Gremels, G. (Her.), Unterwegs zur Mitte. Olav Hanssen - Bausteine einer Biographie, Francke Marburg 2005, S. 170-181; ISBN 3-86122-773-8.)

 


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